Spurensuche - Ein Bericht über den bisherigen Verlauf (Frühjahr 1998)

 

Alexander Majak zu seinem 42. Geburtstag 1943 vor der Baracke des Zwansgarbeiterlagers der Westfalia-Dinnendahl Gröppel AG in Bochum, Verkehrsstraße 39 Die Arbeitskarte von Berta Fetisowa die in Dortmund als Hilfsarbeiterin tätig war Zeche Caroline 1943 in Bochum-Kornharpen, Barackenlager vorn links ehemzwang25 Die Mutter von Ljuba Owtschinnikowa mit anderen Zwangsarbeiterinnen in der Küche der Zeche Caroline

Fremdarbeiter, Ostarbeiter, Zwangsarbeiter - Die meisten, oft sehr jungen Menschen, die aus der Sowjetunion zur Arbeit nach Deutschland verschleppt wurden, kamen seit Ende 1941 und in den Jahren 1942/43 nach tagelangen Fahrten unter menschenunwürdigen Umständen ins Deutsche Reich. Bereits Ende 1942 stellten die OstarbeiterInnen, d. h. die verschleppten und zur Arbeit gezwungenen Menschen aus der damaligen Sowjetunion 53 % aller ausländischen Arbeitskräfte. Etwa 4 Millionen wurden zur Zwangsarbeit "getrieben", wie es in den Briefen der Betroffenen heißt. Etwa 1,2 Mill. ehemalige ZwangsarbeiterInnen lebten nach Schätzung von Memorial (Moskau) noch Anfang der 90iger Jahre in der ehemaligen Sowjetunion.

Bundeskanzler Kohl vereinbarte im Dezember 1992 mit dem russischen Präsidenten Jelzin, dass Deutschland eine Milliarde Mark an "Opfer nationalsozialistischer Verfolgung" in Russland, der Ukraine und Weißrussland zahlt. Die ZwangsarbeiterInnen sind nach Auffassung der Bundesregierung ausgeschlossen, da ihre Ansprüche mit dem Reparationsverzicht der Sowjetunion von 1953 bereits abgegolten seien. Inoffiziell steht es der russischen, ukrainische und weißrussischen Regierung frei, etwas von dem Geld den ZwangsarbeiterInnen zukommen zu lassen. Es wurden entsprechende Stiftungen gegründet.

 

Die Ukraine erhielt 300 Mill. - Für die Einzelnen bleibt nur eine minimale einmalige Entschädigung. Glück hatten diejenigen, die bereits Anfang der 90iger Jahre Nachweise hatten (das waren die wenigsten, etwa 2%) oder die in den Akten des sowjetischen Geheimdienstes registriert worden waren. Durchgehend werden ZwangsarbeiterInnen, wenn sie als solche anerkannt werden, wie Kriegsteilnehmer eingestuft und erhalten eine entsprechende Rente und andere Vergünstigungen, die ihre meist erbärmliche Lage als Rentner etwas mildern.

Am Anfang meiner Suche stand eine Falschmeldung in einer Donezker Zeitung. In einem kurzen Artikel wurde mein Name und Adresse angegeben mit dem Hinweis, dies sei eine Stelle, die Bescheinigungen über geleistete Zwangsarbeit ausstelle. Die Mitteilung wurde bald von allen regionalen Zeitungen des Donezker Gebietes übernommen. Doch das erfuhr ich erst später. Bei mir in Bochum trafen seit Januar/Februar 1997 Briefe, meistens als Anträge formuliert, ein, in denen ehemalige ZwangsarbeiterInnen um Nachweise über ihren Aufenthalt in Deutschland (einschließlich Österreich und der ehemaligen deutschen Ostgebiete) baten. Nach der Lektüre einiger von ihnen brachte ich es nicht fertig, sie einfach beiseite zu legen.

Ich begab mich auf Spurensuche. Insgesamt sind es über 250 Briefe, die mich erreichten. Etwa 50 habe ich weitergegeben an die gebürtige Russin Nina Laus in Münster, die sich seit Jahren um ZwangsarbeiterInnen bemüht, einige an Gisela Sempell, Mitglied der Gesellschaft Bochum - Donezk. Etliche enthalten überhaupt keine Ortsangaben und gehörten somit von Anfang an zu den "hoffnungslosen" Fällen. Briefe mit eindeutigen Orts- und Arbeitsplatzangaben, die ich im Fall größerer Städte direkt an die betreffenden Stadtarchive schickte, bekam ich in der Regel mit dem Hinweis zurück, russische Briefe würden nicht bearbeitet werden, die Übersetzerkosten (pro Brief 80 bis 100 DM) könnten nicht bezahlt werden.

150 Briefe habe ich bisher bearbeitet, d. h. übersetzt, versucht die Bezeichnungen der Ortschaften zu entschlüsseln, die Ortschaften selbst aufzufinden, im Falle großer Städte, die Arbeitgeber, die Bezeichnungen der Betriebe, die Straßennamen zu ermitteln.
Es handelte sich meistens um Jugendliche, Vierzehn- bis Siebzehnjährige, Familien mit Kindern. Sie wurden in Eisenbahnwaggons verladen, tagelang unter menschenunwürdigen Bedingungen transportiert, ohne zu wissen, wohin, wie lange, zu welchem Zweck. Sie verstanden meistens die Sprache ihrer Bewacher und später ihrer "Herren" nicht.

Viele arbeiteten in kriegswichtigen Betrieben, untergebracht in Lagern, um den seit 1939 immer größer werdenden Arbeitskräftemangel der deutschen Industrie aufzufangen. Später brachte das ihnen in ihrem Heimatland den Vorwurf der Kollaboration mit dem Feind und neuerliche Diskriminierung ein. Aber sie kamen auch zu Bauern, als Haushaltshilfen zu kinderreichen Familien. Häufig war die Arbeitssituation hier erträglicher, wenn man davon absieht, dass diese jungen Menschen von Heimweh geplagt wurden, nichts über das Schicksal ihrer Angehörigen wussten, ihre Zukunft völlig im Ungewissen lag, sie täglich der Willkür der Behörden ausgesetzt waren, jederzeit ab kommandierbar an eine andere Arbeitsstelle, zum Schützengräben ausheben, zu Aufräumungsarbeiten nach Bombenangriffen u.a.

Die Resonanz auf meine Anfragen - war relativ groß. Unerwartet traf ich manchmal unter den angegebenen Adressen auf Personen, die sich erinnern konnten. So meldete sich ein Bauer, den eine Kinderfreundschaft mit dem gleichaltrigen Sohn ehemaliger Zwangsarbeiter verband. Meistens kamen die an Privatadressen geschickten Briefe allerdings als unzustellbar zurück. Betrieb, Versicherungen, Stadtarchive antworteten unterschiedlich schnell, manchmal vergingen Monate. Eine Reaktion blieb nur in Einzelfällen völlig aus, allerdings waren die Mitteilungen häufig negativ. Trotzdem empfinde ich die Tatsache, dass ich für ein Drittel der Menschen eine - wenn auch nicht immer gleich aussagekräftige - Bescheinigung über ihren Aufenthalt bekommen habe, als einen großen Erfolg.

Die Dokumentenlage - sie hat ein gutes Teil damit zu tun, wie die Verantwortlichen nach dem Krieg in Deutschland mit dem unter nationalsozialistischer Herrschaft verübten Unrecht umgegangen sind. Es fällt das große Desinteresse großer Unternehmen, einschließlich des Bergbaus auf, Listen dieser Menschen zu bewahren, aufzuarbeiten, Auskünfte zu erteilen. Wenn Stadtarchivare trotzdem an Unterlagen kommen, so geht das sehr häufig auf deren persönliches Engagement und ihre Kontakte zu den Betrieben zurück. Ich hatte häufig den Eindruck, dass Mitarbeiter aus Stadtarchiven der ehemaligen DDR motivierter und sensibilisierter waren. So findet sich plötzlich die "Sparbuchliste" mit dem Namen eines ehemaligen Zwangsarbeiters im Walzwerk Riesa, der minimale "Arbeitslohn" wurde in diesem Fall nicht ausgezahlt, sondern formal korrekt gutgeschrieben.

In kleineren Orten gehen die Gemeindevorsteher selbst auf die Suche und helfen, Zeitzeugen zu finden. Letztere sind bei meinen Recherchen sehr wichtig. Es sind Kinder, Angehörige, Angestellte von Bauern, andere Dorfbewohner, aber auch Menschen in großen Städten, die ich über Zeitungsartikel erreiche, wenn Journalisten sich der Sache annehmen. Hier gäbe es vielleicht noch für einige der ZwangsarbeiterInnen Möglichkeiten, Zeugen zu finden, der Arbeitsaufwand ist allerdings immens. Immer wieder taucht in den Briefen die Klage auf, dass man sich schon vor Jahren an den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes nach Arolsen gewandt habe, von dort aber keine Antwort käme. Mein Bemühen, dort eventuell eine Beschleunigung der Bearbeitung zu erreichen, führte bisher nur dazu, dass die Gesellschaft Bochum-Donezk e.V. als offizielle "Anlaufstelle" für Antragsteller angesehen wird und eine (vorläufige) beschleunigte Bearbeitung erfolgt.

Lohnt es sich? Dürfen wir diese Frage überhaupt stellen? Auch wenn trotz allen Einsatzes keine Bestätigung für den zwangsweisen Aufenthalt zu finden ist, so wird dieses Bemühen von vielen ehemaligen ZwangsarbeiterInnen wenigstens als eine moralische Entschädigung empfunden und dankbar angenommen. Sie erfahren, dass wir uns um sie bemühen und von dem an ihnen begangenen Unrecht wissen. Das mildert den Kummer und das Unverständnis darüber, dass die "akkuraten Deutschen" (Zitat) so häufig keine Bescheinigungen ausstellen können. Und ist es nicht auch unverständlich, dass weder in der Ukraine noch in Deutschland ein Foto aus den Kriegsjahren als Nachweis anerkannt wird, auf dem die Besitzerin mit anderen Mädchen abgebildet ist, sie trägt auf ihrer Bluse das Zeichen OST (für Ostarbeiter). Auf der Rückseite der Fotografie steht - nur noch schwer leserlich - in Russisch: Zur Erinnerung für Davidenko von Marusja aus Ingolstadt. Mag sein, dass ich nicht nach Hause zurückkehren werde. So ist das mein bitteres Los. - Das Stadtarchiv Ingolstadt teilte mir kurz mit, dass ihm keine Unterlagen über Zwangsarbeiterinnen vorlägen.