Gedenkrede von Waltraud Jachnow zum 09. November 1999

Liebe Versammelte, die Sie sich hier eingefunden haben, um eines schrecklichen Ereignisses in der deutschen Geschichte und in der Bochumer Stadtgeschichte zu gedenken. Die Gedenkveranstaltung an die Pogromnacht vom 9. November 1938 findet seit dem Jahre 1983 statt - erst seit 1983! Wir können natürlich auch sagen, wir treffen uns bereits zum 17. Mal. Die Gefahr, dass dieses Gedenken zu einem bloßen Ritual wird, ist so lange gebannt, solange wir das damals Geschehene nicht nur in seiner historischen Dimension betrachten, sondern versuchen daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die unser Verhalten in Gegenwart und Zukunft bestimmen.
Wir legen heute wieder an der Tafel, die an die Bochumer Synagoge erinnern soll, einen Kranz nieder. Diese Tafel ist sehr unauffällig. Man muss schon nach ihr suchen, um sie nicht zu übersehen. Von Passanten wird sie sicher meist nicht bemerkt. Nur mit viel Phantasie können wir uns auf Grund alter Bilder das recht prächtige Bauwerk vorstellen, das mitten im Stadtzentrum, nicht weit vom Rathaus entfernt, in der Nacht vom 9. zum 10. November unübersehbar in Flammen aufging.
Was dachten und empfanden die Menschen, die Zeugen dieses furchtbaren Schauspiels wurden, die morgens an den sicher noch rauchenden Trümmern vorbei zur Arbeit oder zu anderen alltäglichen Verrichtungen eilten? Ein Nebeneinander von Grauen und Normalität. Sind wir gefeit dagegen? Nehmen wir es nicht auch viel zu gleichmütig hin, wenn wir in der Zeitung von Überfällen auf Ausländer, von Brandstiftung an Asylbewerberheimen lesen, wenn wir von alltäglichen kleinen Diskriminierungen erfahren.
"Wir leben heute - wie der Historiker Fritz Stern formuliert - im Zeichen einer Erinnerungskultur in der die Erinnerungen Einzelner ebenso wie die öffentlich ritualisierte Erinnerung einen wichtigen Platz einnehmen... Neue Forschungen über Verstrickungen in bisher unvermuteten Bereichen deutschen und europäischen Lebens haben kritische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit verschärft". Meistens sind es die Erinnerungen der Opfer, weniger die der Täter. Erinnerungen halten wach, aber sie sind ungenau. Sie sind immer emotional gefärbt, auswählend, einschränkend, subjektiv. Sie führen uns an "die Schwelle historischen Verständnisses". Der Historiker braucht Fakten, die er zu analysieren und zu interpretieren hat. - So kommen wir zum nächsten Defizit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der unzureichenden Bewahrung von Dokumenten aus jener Zeit. Heute wurde sehr eindrucksvoll eine Liste der Bochumer Opfer der Shoah verlesen. Zu dieser Liste könnte eine weitere hinzukommen - eine Liste der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen in Bochum. Wenn es sie denn gäbe!
Allein in Bochum waren im Spätherbst 1944 insgesamt etwa 32.500 ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene registriert, es gab mehr als 100 Lager. Diese Menschen arbeiteten schwer, oft bis zur tödlichen Erschöpfung, auf den Zechen, beim Bochumer Verein, bei den Firmen der Gebr. Eickhoff, der Gebr. Mönninghoff, der Hochtief AG, im Dr. C. Otto-Werk, bei der Reichsbahn, in der Landwirtschaft, bei der Kommune, in Privathaushalten, praktisch überall dort, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden. Die übergroße Mehrheit stammte aus der ehemaligen Sowjetunion. Diese Frauen und Männer müssen unübersehbar gewesen sein: am jeweiligen Arbeitsplatz, auf ihren meist unter Bewachung erfolgenden Märschen zur Arbeitsstelle. Wie viele Häuser grenzten an die mehr als 100 Lager, in denen sie untergebracht waren.
Wenn sie überlebten, ca. 1.700 Gräber befinden sich allein auf dem Bochumer Hauptfriedhof, verschwanden sie nach Kriegsende aus dem Blickfeld der deutschen Bevölkerung, aber auch der deutschen Behörden. Sie gingen zurück in ihre Heimat und wurden sehr bald auch offiziell vergessen. Denn wie ist es sonst zu erklären, dass die erhaltenen Unterlagen über die Kriegsgefangenen, die ZwangsarbeiterInnen unsortiert in Kellern verschwanden oder weggeworfen wurden - "ob bewusst oder unbewusst, das ist dabei immer die Frage" - führt der Haushistoriker der Deutschen Bank Manfred Pohl aus.
Die Unterlagen über die Insassen des Bochumer Gefängnisses während der Kriegszeit wurden erst in den 60er Jahren vernichtet und mit ihnen der für viele ZwangsarbeiterInnen so wichtige Nachweis. Das betrifft beispielsweise die wegen Fluchtversuches inhaftierte damals 17-jährige Emilia Oprytschenko, die 19-jährige Anastasija Schewtschenko und Avil Knjasew, den gerade 18-jährigen Leonid Borosenko, den 16-jährigen Nikolaj Borodenko. Unterlagen zum Thema Zwangsarbeit sind damit unwiederbringlich verloren. Wie konnte das ohne Einspruch des Stadtarchivs geschehen? Es sei hier auf die doppelt tragische Situation dieser nach Deutschland verschleppten Menschen hingewiesen, die bei ihrer Rückkehr in die Sowjetunion als Verräter und Kollaborateure angesehen wurden und erneut teilweise schlimmsten Repressalien ausgesetzt waren.
Ich stehe hier für die Freundschaftsgesellschaft Bochum-Donezk, deren Anliegen es war über die offizielle Partnerschaft hinaus, die Menschen beider Städte zusammenzuführen. Für uns war es besonders wichtig, die während des Krieges nach Deutschland Verschleppten und zur Arbeit Gezwungenen in der Partnerstadt Donezk zu suchen. Das war anfangs nicht einfach. Die meisten Überlebenden hatten aus Angst vor ständiger Verfemung in der Heimat über ihr Schicksal während des Krieges selbst gegenüber nächsten Angehörigen geschwiegen. Erst allmählich organisierten sie sich, nachdem ihre offizielle Rehabilitation unter Gorbatschow in der Sowjetunion erfolgt war.
Es gelang uns 1992 erstmals eine kleine Gruppe ehemaliger ZwangsarbeiterInnen nach Bochum einzuladen. Wir erlebten, dass damals (vor sieben Jahren) weder von den offiziellen Stellen und Parteien, geschweige denn von den Firmen in Bochum die besondere Schuld, in der wir diesen Menschen gegenüber stehen, empfunden wurde. Ich denke, das hat sich indessen etwas geändert. Ich würde so gern glauben, dass es jetzt wirklich um Annahme der Schuld geht, einer Schuld, die es gilt in Verantwortung umzusetzen, und nicht nur um wirtschaftliche Zwänge.
Ihnen wird die in jüngster Zeit ausgelöste Diskussion über Entschädigung von NS-Zwangsarbeit nicht entgangen sein. Ausgelöst wurde sie durch Sammelklagen in den USA. Boykottdrohungen gegenüber deutschen Unternehmen bewirkten, dass es zum ersten Mal Überlegungen gab, Zwangsarbeit während der Kriegszeit zu entschädigen. Im Februar dieses Jahres gründeten 12 Unternehmen eine Stiftungsinitiative, die bis heute insgesamt 50 Unternehmen umfasst. Das notwendige Geld fließt dagegen nur spärlich. Das ist empörend, wenn wir bedenken, dass praktisch jedes deutsche Unternehmen diese billigen Arbeitskräfte ausnutzte. - VW und Siemens zahlen bereits freiwillig 10.000 DM an jeden ihrer ehemaligen Zwangsarbeiter, vorausgesetzt, der Nachweis kann geführt werden.
Seit Jahren erhalte ich verzweifelte Briefe von ZwangsarbeiterInnen, die auf der Suche nach solchen Nachweisen sind. Bei meinen Bemühungen um solche Bescheinigungen wurde ich zum ersten Mal mit der katastrophalen Situation der Dokumentenlage in den meisten Stadtarchiven konfrontiert. Es hat jahrzehntelang nach dem Krieg kaum Bemühungen gegeben, Materialien zu bewahren, geschweige denn, Dokumentationen zur Zwangsarbeit zu erstellen. Engagiert haben sich in diesem Bereich vor allem Einzelne, Hobbyhistoriker und politische Gruppen. Sie haben oft unter ungünstigsten Bedingungen und häufig auch persönlichen Anfeindungen, Daten zusammengetragen und ausgewertet.
Das gilt durchaus auch für Bochum.
Vieles ist noch immer nicht dokumentiert, beispielsweise auch die willkürliche Erschießung von 6 jungen Menschen, darunter 5 jungen Frauen am 5. April 1945 im Lager der Westfalia-Dinnendahl-Gröppel-AG in Bochum an der Verkehrsstraße, oder die Erschießung - eigentlich müsste ich von Abknallen sprechen - von 3 jungen Burschen, Zwangsarbeiter auf der Zeche Dahlhauser Tiefbau, durch gleichaltrige Deutsche, als sie sich beim Lager an der Ruhr sonnten. Das geschah am 14. April 1945, die amerikanischen Truppen standen bereits in Linden. Aber auch Unternehmen wie das oben angeführte Volkswagenwerk, das eine große Studie unter Federführung von Hans Mommsen anfertigen ließ, antworteten, dass sie leider keine Bestätigung über eine Beschäftigung in der Zeit von 1942 bis 1945 erteilen können, weil alle Lohn- und Personalunterlagen durch Kriegseinwirkungen verloren gegangen sind.
Der Internationale Suchdienst in Arolsen, der über umfassendere Unterlagen verfügt, arbeitet aus Personal- und anderen Gründen so langsam, dass die Betroffenen jahrelang auf eine Auskunft warten müssen und darüber sterben.
Angesichts der beschriebenen Situation müssen wir eine schnelle und unbürokratische Entschädigung aller ZwangsarbeiterInnen fordern. Eine Bundesstiftung könnte dem am ehesten gerecht werden, damit auch jene entschädigt werden, deren Betriebe und Arbeitgeber nicht mehr existieren. Es ist unwürdig, wenn Unternehmen juristisch korrekt nachweisen, sie seien nicht unmittelbare Rechtsnachfolger und die moralische Dimension völlig außer Acht lassen. In der Regel sollten persönliche, glaubhafte Angaben der Betroffenen ausreichen, ihnen die Entschädigung zu gewähren. Diesen Menschen darf nicht noch einmal die Würde genommen werden.

Zum Schluss möchte ich zwei Zwangsarbeiter zitieren, die 1992 auf Einladung der Gesellschaft Bochum-Donezk e.V. in Bochum waren.
Auf die Frage nach ihren Erinnerungen antwortete Wladimir Mordowez, der als 16-Jähriger nach Bochum verschleppt wurde und von 1942 bis 1945 bei der Firma Eickhoff arbeitete:
"Die Erinnerungen sind sehr bedrückend, als ich (jetzt) bei Eickhoff war, da wünschte ich, dass niemand das erleben muss und dass niemals die Jugend in der heutigen Zeit so etwas erleben muss. Aber die Begegnung mit unseren ... deutschen Freunden haben die schrecklichen Erlebnisse, die wir im Inneren aufbewahren, ein wenig gemildert."

Viktor Schmitko, ebenfalls als 16-Jähriger verschleppt, Zwangsarbeit von 1942-1945 bei der Firma der Gebr. Mönninghoff, Bochum:
"Die Kränkung bestand auch darin, dass wir entpersönlicht waren. Auch für den, der mit uns zusammen arbeitete, waren wir nur Lagernummern. Damals in jener Zeit spürten wir die ablehnende Haltung der Menschen auf der Straße uns gegenüber, uns als den Vertretern des russischen Volkes. Man beleidigte uns, vor allem wurden wir von den Jugendlichen beleidigt... Wir legten uns schlafen und wachten auf mit dem einzigen Gedanken an Essen... Ich arbeitete in der Schmiede an der heißen Presse mit heißem Metall, das war eine schwere Arbeit, sonntags mussten wir ebenfalls arbeiten, Reparaturen ausführen, Waggons entladen, auch das war schwer. Ich habe mir damals einen Bruch gehoben... Ich selbst hätte nie geglaubt, dass ich noch einmal hierher zurückkomme. Aber ich habe begriffen, dass dies ein anderes Deutschland ist."